Auf den Straßen staut sich der Verkehr. Die weibliche Bevölkerung des Dorfes Emlichheim geht kollektiv fremd. Die Frauen sind die provinzielle Enge und insbesondere ihre trostlosen Ehen leid, während ihre »gehörnten« Gatten phlegmatisch am Stammtisch sitzen. Keimzelle der sehr speziellen Revolution ist das Gymnastikstudio der Sportlehrerin Rita Zimmermann. Sie trennt sich von ihrem Mann, dem Schmalspur-Casanova und Achtundsechziger Joni, während die Schlesierin Herta Kleiber, Köchin der örtlichen Jugendbildungsstätte, mit ihrer Schwester zusammenlebt, da nach dem Krieg nicht mehr genügend Männer für alle übrig waren. Und dann ist da noch Adrian, der jüngste Zimmermann-Spross, der mit Meret seine erste Liebe erlebt, sich aber auch zu seinem lebensmüden Freund Sebastian hingezogen fühlt und irgendwann glaubt, Außerirdische auf einer Kuhweide landen zu sehen.
Nach »Nordwestwärts«, »Vogelpark« und »Landkrank« legt Schwartz nun den vierten und letzten Teil seines Zyklus über den vielgestaltigen Mikrokosmos Emlichheim an der deutsch-niederländischen Grenze vor. Bestechend humorvoll, aber auch atmosphärisch, einfühlsam und hintergründig erzählt er von den Schicksalen unvergesslicher Figuren und betreibt Schicht um Schicht eine Archäologie der Gegenwart, in welcher sein Protagonist Adrian — von Berlin aus — eine kaleidoskopisch zerfallende Vergangenheit zu ordnen versucht, um möglicherweise ein neues Leben zu beginnen.
Tobias Schwartz (geb. 1976) lebt als Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer (Aphra Behn, Shelagh Delaney, Virginia Woolf) in Berlin. Sein Debütroman »Film B« erschien 2007, seine Theaterstücke wurden an verschiedenen Bühnen gespielt.
Ebenfalls lieferbar: der Roman »Morpho peleides«, die Erzählung »Im Nebel« sowie die Romane »Nordwestwärts« (2019) und »Vogelpark« und der Erzählband »Landkrank« aus dem Zyklus über die Ortschaft Emlichheim.
»Eine Art literarische Sinfonie« (Hagen Gersie, »taz«, über den Emlichheim-Zyklus)
Nicht alles, was uns umgab oder widerfuhr, hatte eine Bedeutung, dachte Adrian jetzt. Es gab auch leere Zeichen. Anders Hertas Grabstein, der sprechender und sinnfälliger nicht hätte sein können. Am Grab, zwischen den Buchsbaumhecken, Haselnusssträuchern und Koniferen, hatte er den Impuls verspürt, das in den Stein gemeißelte — oder hineingefräste — Buch zuzuschlagen, doch eher, um Ordnung zu schaffen, als um ein Kapitel abzuschließen — es gab Dinge, mit denen es nie zu einem Abschluss kam und aus unterschiedlichen Gründen vielleicht zu keinem Abschluss kommen konnte, und Herta zählte genauso dazu wie so vieles andere, das mit diesem Emlichheim verbunden war, bei dem es sich letztlich um ein einziges Synonym für seine eigene, unaufgearbeitete Vergangenheit handelte, und er hatte sich lange geweigert, über sie nachzudenken, und schlicht nicht geglaubt, dass sich das in seinem Fall lohnen könne. Jetzt war es wie ein großes Puzzle, dessen einzelne Teile, so viele es auch waren und so unübersichtlich es sich anfangs darstellte, sich erstaunlich gut zusammenfügten — vielleicht aufgrund der Hilfestellung, die sein Therapeut ihm gab, so viel gestand er sich durchaus ein. Hätte er es doch nur früher versucht, sagte er sich, und im gleichen Augenblick — er sah gerade eine schwarze Katze über ein Stoppelfeld laufen — fiel ihm ein, wie schwer es ihm ein Leben lang gefallen war, Memory zu spielen, wie er noch vor wenigen Jahren im Beisein seiner eigenen Kinder festgestellt hatte, und wie schwer es ihm auch weiterhin fiel.
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